Was ist eine spirituelle Krise?

Begriff

 

Der Begriff der "spirituellen Krise" ist relativ neu und vor allem in den 80er Jahren vom Psychiater und trans-personalen Psychotherapeuten Stanislaf Grof ("spiritual emergency") und seiner Ehefrau Christine Grof geprägt worden. Ausgangspunkt war damals die Erfahrung, dass in der neu entstandenen spirituellen Bewegung des letzten Jahrhunderts viele meditative und spirituelle Praktiken, insbesondere aus den östlichen Traditionen stammend, zu intensiven mystischen und subitlen Erfahrungen sowie aussergewöhnlichen Bewussteins- und energetisch-körperlichen Zuständen (Kundalini-Erleben, Begegnungen mit sogenannten Wesenheiten etc.) führen ("spiritual emergence").

Häufig waren und sind weder derjenige, der die Erfahrung macht, noch unsere moderne Kultur darauf vorbereitet und in der Lage, diese Erfahrungen zu verstehen und zu verarbeiten.

Die Rolle von Drogen, auch den sogenannten "Erwachensdrogen", wird in diesem Zusammenhang vermutlich verkannt und bagatellisiert.

 

Grof stellt den Begriff in einen größeren Rahmen, in dem er die Krise als Komplikation eines spirituellen Entwicklungsweges und damit eines evolutionären Prozesses deutet, die bei gelungener Integration zu einem reiferen und erfüllenderen Leben führen kann. Hier sprechen wir eher von sogenannten "transpersonalen" Krisen, bei denen ein abgegrenztes und kohärentes Persönlichkeitserleben mitsamt seiner Fixierungen als erwünschtes Ergebnis langjähriger Meditationspraxis verlorengeht - bei erhaltenem Zeugenbewußtsein.

 

Hiervon abzugrenzen sind die schweren psychischen Krisen, die entstehen, wenn wir in der frühen Phase spiritueller Arbeit (Meditation etc.) in einer tiefen Selbst-Begegnung Kontakt zu bis dahin verdrängten, abgespaltenen Gefühlen und Erlebnisinhalten erlangen. Diese Ereignisse und Erinnerungen von häufig traumatisierender Intensität können dann plötzlich und heftig ins Bewußtsein dringen und zu schwer oder nicht-aushaltbaren Spannungen, Empfindungen und Konflikten führen. Hier gehören früher oder aktueller Drogenkonsum mitunter zu einem explosiven Gemisch an destabilisierenden Faktoren.

 

Je mehr eine solche Öffnung auf ein noch fragiles Selbst trifft, unser Gefühl von Selbst, Umwelt und Sinn, unser Erleben von einem konsistenten Inneren und Äußeren auseinander fallen lässt, desto mehr Chaos stellt sich ein. Wir sprechen dann eher von psycho-spirituellen oder "präpersonalen" Krisen (s. Differentialdiagnostik spiritueller Krisen - Maria A. Gallen). Die Flutwelle von Reizen und Emotionen führt zu einer Art Schutzreaktion, die wir als Lähmung (Depression) empfinden oder zu einer Desintegration, die wir als "Untergang des Ich" (Psychose) bezeichnen können.

 

Davon abzugrenzen sind die "religiösen" oder "psycho-religiösen" Krisen, unter denen wir Situationen verstehen, die im Zusammenhang mit traditionellen Religionen auftreten und z.B. mit dem Verlust des Glaubens an Gott oder einem Durchbruch zur Gotteserfahrung - etwa aus einer Lebens- und Sinnkrise heraus - verbunden sind. Gleichwohl verweisen die mystischen Schulen der konventionellen Glaubensrichtungen mit ihrem Zugang zu subtilem Erleben auf ähnliche Zustände wie S. Grof.

 

 

Nichtsdestotrotz: Die Deutungshoheit einer Krise und seines Prozesses steht zuallererst dem Betroffenen zu. Von therapeutischer Seite können nur Angebote gemacht werden. 

 


"Diagnosen sind Namen für unbekannte Dramen" 

   

  Thure von Uexküll


Die Krise

 

Das Wort Krise steht für Scheidung - die Zuspitzung eines Konfliktes oder einer Erkrankung bis zu dem Punkt, an dem sich entscheidet, ob der Weg zur Genesung oder zur Verschlechterung eingeschlagen wird - Genesung impliziert dabei , dass ein neuer Zustand der Heilung, Integration auf höherer Ebene entstehen kann, im Sinne der Entwicklungskrise. Das Gegenteil wäre der Zerfall, die Desintegration des vorherigen Zustandes.

 

Die Sinnkrise der Moderne mit Verlust von Sinn, Bedrohung von Bindung und Identität, von Verstehbarkeit und Lenkbarkeit des Lebens (sinngemäß s. Karl Baier - Spirituelle Krisen) ist Ausgangspunkt für die neue spirituelle Bewegung des ausgehenden 20. und angehenden 21. Jahrhunderts. In ihr tummeln sich vielfältigste alte Traditionen mit unterschiedlichsten Anliegen, alte wie neue esoterische Schulen, hochpotente energetische Techniken, seriöse wie weniger seriöse Lehrer, New Age Propheten ebenso wie bekehrte missionierende Wissenschaftler. So sehr diese Entwicklung notwendig erscheint, um der Welt wieder ein menschlicheres Antlitz zu geben, die spirituelle Verarmung der Moderne zu überwinden, so sehr sorgt dieses Gemengelage auch für erhebliche Sprengkraft ...

 

... und wie die Chinesen fragen: "bist Du auch bereit den Tiger zu reiten, den Du aus dem Käfig lässt?"

 

Auch im Umfeld noch so seriöser spiritueller Lehrer und Bewegungen kann es zu spirituellen Öffnungen (emergence) oder mystischen Erfahrungen kommen, deren Turbulenzen einen Menschen aus der Bahn werfen.

Spirituelle Arbeit führt meist zu "Auflockerungen" des Ich. Diese Auflockerungen machen den Praktizierenden durchlässig für tieferes Empfinden nach Innen und Außen, die Grenzen zum Unbewußten werden ebenso aufgelockert wie die zum Überbewußten. Von den Inhalten des Unbewußten,der Stabilität des Ich und der Belastbarkeit eines Zeugenbewußtseins hängt ab, in welche Richtung der Weg geht.

 

Ein typisches Merkmal schwerer Krisen ist, dass der Betroffene sein inneres und äußeres Erleben kaum versteht oder schwerlich auseinanderhalten kann, womöglich zwischen psychotischer Wahrnehmung und spiritueller Durchbruchserfahrung fluktuiert oder sich beides vermischt. Selbst Psychiatern und Psychologen, die sich mit spirituellen Krisen beschäftigen, kann die Unterscheidung schwer fallen - Unerfahrenen oder Unaufgeschlossenen wird sie meist ohnehin entgehen. David Lukoff prägte hier den Begriff der "mystischen Erfahrung mit psychotischem Aussehen".

 

Wir sprechen besonders dann von spirituellen Krisen (emergency), wenn dies zu Zuständen führt, die sich vom Betroffenen nicht mehr alleine handhaben lassen.

 

Längerfristig gesehen können diese emotionalen und geistigen Umwälzungen  - wenn als solches erkannt, angemessen begleitet und schlußendlich integriert -  in tiefe Transformationen und Erwachensprozesse münden. Statt Zusammenbruch entsteht eine beständiger Durchbruch, statt Desintegration Integration auf einer neuen Ebene.

 

 

Es ist wichtig zu verstehen und zu differenzieren

  • spirituelle Krisen und psychische Schwierigkeiten überlagern sich, ja bedingen sich mitunter gegenseitig.
  • die Beziehungen zwischen spirituellen Krisen und psychologischen Störungen sind sehr komplex.
  • der/die Betroffene braucht intensive professionelle Hilfe vor Ort. 
  • das "Ego" kann in der spirituellen Arbeit der östlichen Traditionen erst überwunden werden, wenn sich ein reifes Selbst entwickelt hat. 

"Der Psychotiker ertrinkt im selben Meer, in dem der Mystiker genußvoll schwimmt ..."

  

   Joseph Campbell

 


Stanislaf Grof, Psychotherapeut, Psychiater, und seine Frau Christina Grof sind diejenigen, die den Begriff "spiritual emergency" prägten und ein Leben lang daran arbeiteten.

 

Er weist darauf hin, dass "manche der dramatischen Erfahrungen und ungewöhnlichen Geistesverfassungen, die von der klassischen Psychiatrie als Geisteskrankheiten diagnostiziert werden, in Wirklichkeit Erfahrungen ausser-gewöhnlicher Bewusstseinszustände und damit Ausgangspunkt für persönliche Transformation sein können." Weiter: " Ein ausgewogener Zugang ist wichtig. Während einerseits die traditionellen Ansätze dazu neigen, mystische Zustände zu pathologisieren, dürfen andererseits schwere pathologische Zustände nicht verklärt oder organische Zustände übersehen werden."

Die Komplexität des Ganzen wird deutlich, wenn er darauf verweist, dass im Rahmen von Psychosen religiöse Erfahrungen auftreten können, die "echt" sind und spirituelles Erleben psychotische Anteile enthalten kann, welche pathologisch sind.

 

Typische Phänomene und Aspekte eines weitergefassten Begriffes sind wie folgt:

"Ein Mensch kann in der spirituellen Krise verschiedenste Erlebnisse haben:

  • das Gefühl von innerem Erleben überwältigt zu werden
  • alte Überzeugungen und Weltbilder werden massiv in Frage gestellt
  • Probleme in der Bewältigung einfacher Anforderungen des täglichen Lebens
  • Schwierigkeiten haben, die innere Welt der Visionen von denen der äußeren Realität zu unterscheiden
  • ungewöhnliche körperliche Sensationen, die sich wie heftige, den Körper durchströmende Energien anfühlen
  • ein starkes Mitteilungsbedürfnis über sein Erleben
  • missionarisch wirken, und/oder so als hätte er den Kontakt mit der Realität verloren"

 

Jede Krise ist individuell und einzigartig, dennoch gibt es Ähnlichkeiten, die helfen, gewisse Kategorien zu entwickeln. Krisen können einzelne oder mehrere der beschriebenen Phänomene aufweisen und verschiedene Kategorien in sich vereinen. Je nach kulturellem Hintergrund und psychischem Entwicklungsstand des Einzelnen kommen diesen Erfahrungen sehr unterschiedliche Deutungen zu, was diese Auflistung zunächst ungeordnet und etwas beliebig erscheinen lässt. 

 

  • die schamanische Krise
  • das Erwachen der Kundalini-Energie
  • spontane oder durch spirituelle Praxis entstandene Gipfelerfahrungen/Einheitserleben
  • seelische Erneuerung durch Rückkehr zur Mitte
  • die Krise durch spirituelle Öffnung und/oder Erleben früherer Inkarnationen
  • Kommunikation mit geistigen Lehrern und "channeling" -Erfahrungen
  • Nah-Tod-Erlebnisse
  • Begegnung mit höheren Wesenheiten, "Engeln" oder sogen. "Außerirdischen"
  • "Besessenheitszustände"

  

 

siehe auch: Spirituelle Krisen - Chancen der Selbstfindung, Stanislav und Christina Grof, Kösel-Verlag

 

 

Wir setzen uns dabei ausdrücklich für ein aufgeklärtes integrales Verständnis ein und werben für eine kritische Integration der verschiedenen Ansätze und Behandlungsmethoden.